Wer eine der Herzogenhorn-Wochen 2024 mit Shimizu Sensei und Kenta Shimizu Sensei erleben durfte, hat unmittelbar erfahren, wie Aikido von Generation zu Generation - durch Training mit Spüren und Erzählen - weitergegeben wird.
Kenta Shimizu Seinsei, Dojo cho des Tendoryu-Hombu-Dojos in Tokyo, leitete den praktischen Teil des Fünf-Tages-Lehrgangs, während sein Vater Shimizu Sensei, einst "Uchi Dechi" von Aikido-Begründer Morihei Ueshiba und selbst Begründer des Tendoryu Aikido, mit wachem Auge den Trainingsverlauf beobachtete und immer wieder mit Geschichten und Erfahrungen aus seinem Leben und über das Budo das Training ergänzt. Birgit Lauenstein-Shimizu baute mit ihren Übersetzungen verlässlich wie immer die sprachliche Brücke zu den Teilnehmern, so dass ein tieferes Verständnis für das Tendoyru Aikido erwachsen konnte.
Shimizu Sensei erzählte die Geschichte, als er als junger "Uchi Dechi" (jap. persönlicher Schüler im Haus des Meisters) Morihei Ueshiba auch bei Auswärtsterminen begleiten durfte und ihn einmal zum Bahnhof brachte. Während Morhei Ueshiba "wie Wasser" durch eine große Menschenansammlung sich fortbewegen konnte, hatte Shimizu Sensei seine liebe Mühe, ihm überhaupt - selbst mit Gepäckstücken beladen - folgen zu können.
Wofür steht diese Anekdote?
Wer Aikido erlernen will, begibt sich auf den Weg des Aiki: Aikido beziehungsweise Budo hört nicht im Dojo auf, sondern kann sich durch das ganze Leben ziehen und in vielfältigsten Situation - wie zum Beispiel in einem überfüllten Bahnhof - Anwendung finden. Voraussetzung dafür ist "Shin Ken" (jap. Aufmersamkeit). In der Ära der Samurai hat Aufmersamkeit über Leben und Tod entschieden; heutzutage ist Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft meist nicht überlebenswichtig, doch sie ist ein wichtiger Bestandteil, um bewusster zu leben - sei es in der Öffentlichkeit, wenn man nur eine Straße quert, im Beruf, wenn man wichtige Projekte mit Kollegen erfolgreich entwickelt, sei es im Privaten, wenn man sich um das Wohlregehen seiner Familie und seiner Mitmenschen kümmert.
Wer aufmerksam angreifen lernt, lernt dadurch auch aufmerksam zu fallen. "Aikdo lernt man durch Ukemi (jap. das Fallen bzw. das Sich-Schützen)", erwähnte Kenta Shimizu Seinsei während des Lehrgangs. Einen weiten inhaltlichen Bogen spannte Shimizu Seinsei als er sagte: "Aikido lernt man nicht durch das Harmonisieren mit dem Partner, sondern durch das Harmonisieren mit dem Universum." Wie soll das denn bitte geschehen, fragt sich der westlich geprägte Mensch, der versucht, eine solche Erklärungen zu deuten? Nun ja, wie schon eingangs erwähnt, endet Aikido oder Budo nicht am Rand der Tatami-Matte,sondern kann sich durch das Leben ziehen. Und nachdem alles ein Teil des Universums ist, kann man versuchen, die Prinzipien des Budos auf alles, was einen umgibt, anzuwenden.
Neben "Shin Ken" hob Shimizu Sensei auch die Bedeutung des Mutes für das Erlernen des Aikido und ebenfalls für das Leben hervor. Mut ist übrigens einer der sieben Tugenden des Budo und diesen entwickelt ein Aikidoka, wenn er das Fallen lernt und den ersten Reflex zum Erstarren oder zum Abblocken überwindet. Eine weitere Budo-Tugend des Aikido ist Aufrichtigkeit. Sowohl Kenta Shimizu Sensei als auch Shimizu Sensei korrigierten einzelne Teilnehmer immer wieder im Verlauf des Trainings - zum Beispiel, wenn es darum ging, überflüssige Bewegungen wegzulassen.
Auf dem Weg des Aikido geht es darum, Forschritte zu erzielen, die bei jedem individuell anders ausfallen. Und so werden Korrekturen vom Trainer oft gütig und höflich - ebenfalls zwei Budo-Tugenden - angebracht. Um so höher ein Aikidoka fortgeschritten ist, um so höher sind jedoch auch die Maßstäbe, die an ihn angelegt werden. So können Korrekturen hier strenger ausfallen. So wird letztlich auch seine Loyalität geprüft.
Die Teilnehmenden, die eine Woche Tendoryu Aikido auf den "Horn" erlebt haben, sind am letzten Tag glücklich, denn im Lauf der Tage ist ein besonderer Zusammenhalt - ein Aikido-Gefühl - gewachsen. Jeder fühlt sich stolz, ein Teil dieser Gemeinschaft sein dürfen.
Auch wenn die Zeiten der Samurai längst abgeschlossen sind, so leben in den Budo-Künsten doch die sieben Tugenden der Samurai auch noch heute weiter:
Gi (義): Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit
Yu (勇): Mut
Jin (仁): Güte
Rei (礼): Höflichkeit
Makoto (誠) oder Shin (真): Wahrheit oder Wahrhaftigkeit
Meiyo (名誉): Ehre
Chūgi (忠義): Treue oder auch Chū (忠): Pflichtbewusstsein oder Loyalität
Die sieben Falten des Hakama erinnern an die sieben Tugenden.
Bodo-Klaus Eidmann