Aikido im TSV Großhadern München

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Nachdenken über.... Etikette

Gespräch zwischen Yvonne Pfeiffer (4. Dan), Daniela Gaschler (3. Dan) und Gudrun Bratu (3. Dan)

Gudrun: Im Aikido gibt es ritualisierte Abläufe, wie das gemeinsame Reinigen des Übungsraums, das Begrüßen und Verabschieden mit der Ausrichtung zum Shomen, die zahlreichen Verbeugungen, das Sitzen im Seiza. Wir achten auf Kleinigkeiten, wie die saubere Trainingskleidung, den richtig gebundenen Gürtel, das sorgfältige Zusammenlegen des Hakama. Wir kultivieren eine aufrechte Haltung. All das nennen wir „Etikette“. - Was bedeutet Etikette für eure Aikido-Praxis?

Yvonne: Wenn man Budo-Künste übernimmt, übernimmt man auch ein Regelwerk. Je authentischer das von den Trainern gelebt wird, desto besser springt der Funke über zu den Menschen, die in den Dojos trainieren. Wenn ich die Etikette als Trainerin selbst nicht gut finde, kann ich ihre Inhalte nicht vermitteln. Vor allem die Jugendlichen spüren ganz genau, ob du dahinter stehst oder nicht.

Gudrun: Bei den Erwachsenen ist es genauso. Es geht immer darum, nicht nur leere Gesten auszuführen, sondern Inhalte zu transportieren.

Yvonne: Wird verkörpert, was dahintersteckt, dann kommt es auch bei denen an, die dir zuschauen… In unserer Gesellschaft ist etwas verloren gegangen. Vielleicht spüren das die Menschen gar nicht oder es ist ihnen nicht bewusst, weil sie es zu Hause vielleicht nicht kennengelernt haben. Zum Beispiel, ob man als Familie noch am Esstisch zusammenkommt. Das ist etwas Gemeinsames, da gibt es auch Regeln, die ganz natürlich praktiziert werden. Man kann das gut aufs Aikido übertragen - der Start des Trainings, das Verneigen schon an der Tür, das Begrüßen, das Matten putzen oder das Auf- oder Abhängen des Gi. Diese „Transformation“ findet sowohl im privaten Leben als auch im Aikido-Leben statt. Etikette halte ich insgesamt für wichtig, denn ob die Regel jetzt im Binden des Gürtels besteht oder ich meine Kaffeetasse in die Spülmaschine räume, das macht für mich keinen großen Unterschied. Wer Regeln generell nicht mag, der tut sich natürlich schwer damit.

Gudrun: Vielleicht könnte man sagen: Etikette ist wie der soziale Kitt zwischen den Menschen, sie erleichtert das Zusammenleben und das gemeinsame Trainieren. Mit ihrer Hilfe bekommen wir Raum für Wesentliches.

Daniela: Unser Credo: Wir trainieren im Aikido den Körper und den Geist. Dann stellt sich die Frage, wie man das macht. Für mich ist Etikette, sind alle Rituale Hilfsmittel, um den Körper mit dem Geist zu verbinden, so dass diese Unterscheidung nicht mehr notwendig ist. Die Übung liegt eben nicht nur darin, eine Technik zu lernen und zu vertiefen. Wir üben gleichzeitig immer Aufmerksamkeit, Wachheit und soziales Verhalten. Als Trainerin kann ich nicht für die Sicherheit garantieren, wenn wir keine Etikette haben. Ganz praktisch gesehen erhöht sich die Verletzungsgefahr, wenn wir uns nicht auf bestimmte Regeln einigen können, Aikido ist schließlich eine Kampfkunst.
Ich finde interessant und wichtig, einmal zu fragen, warum man sich zum Beispiel verbeugt. Was steckt für eine Idee dahinter, was passiert mit einem? Am Anfang macht man es vielleicht nur, weil es die anderen machen. Mit der Zeit findet man heraus, dass man sich dadurch genauso verändert wie durch die Techniken. Beides ist wertvoll und nicht zu trennen.

Gudrun: Kannst du genauer beschreiben, was sich durch das Verbeugen entfalten kann?

Daniela: Da gibt es verschiedene Momente. Wir verbeugen uns, wenn wir ins Dojo eintreten. Der Schritt über die Schwelle aus dem Alltag in das Dojo, da fängt die Veränderung schon an. Dieser kurze Moment, sich dessen bewusst zu werden, sich zu verbeugen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und wieder präsent sein. Ich gehe jetzt ins Dojo und lasse mich auf das ein; ich öffne mich und lerne das, was ich heute lernen kann. Sich mit dem Geist vorbereiten, das ist die erste Verbeugung.

Dann auf die Tatami treten, wieder Richtung Shomen. Da muss jeder für sich selber herausfinden, was er damit macht. Es ist die Gelegenheit und die Einladung dazu, Dankbarkeit zu zeigen und sich aus Respekt vor denen zu verbeugen, die uns vorausgegangen sind. Diese haben aus ihren Fehlern gelernt, und sie wollen uns helfen. Das verdient unseren Respekt. Sie ersparen uns, alles noch einmal neu herausfinden zu müssen. Wenn man ohne einen Lehrer Kampfkunst üben möchte, dann muss man sehr viele Fehler machen, um diese Weisheit zu bekommen. Durch ihre Hilfe lernen wir ein bisschen schneller, nicht sehr schnell, aber dadurch wird es doch einfacher.

Dann kommen die Verbeugungen zum Trainer. Zum einen bedeutet das, sich zu öffnen und zu sagen, ich bin bereit, heute etwas zu lernen. Darum geht es ja im Aikido - sich weiterzuentwickeln. Es ist nicht immer einfach, wenn man zum Beispiel noch Sorgen aus dem Alltag mitgebracht hat. Dann wird auch dieser Moment zu einer Übung. Wie kann ich meinen Anfängergeist wieder wachrütteln? Eine Verbeugung zum Trainer für seine Großzügigkeit, dass er seine Erfahrung teilt, für meine Sicherheit und für die der Gruppe sorgt und für den Lernprozess.

Dann zum Partner, denn ohne einen Partner können wir nicht lernen. Wie das Messer am Schleifstein, so schleifen wir uns am Partner. Jeder einzelne Partner hilft mir, mich selber zu entwickeln, Aikido ist grundlegend ein gemeinsames Geschehen.

Nach dem Training zeigen wir wieder Dankbarkeit durch eine Verbeugung. Untersuchungen zeigen, dass Dankbarkeit einer der Faktoren ist, um Menschen glücklich zu machen. Aikido bietet mit diesen Ritualen Hilfestellung, um persönlich glücklicher zu sein. Da können wir wiederum der Tradition aus Japan dankbar sein. Dankbarkeit und Mitgefühl sind ganz große Attribute, die uns glücklich machen.

Gudrun: Wie nehmt ihr Menschen mit, denen die japanische Kultur und die Inhalte des Aikido noch sehr fremd sind?

Yvonne: Das ist eine schwierige Frage. Denn alle, die zu uns ins Training kommen, sind unterschiedlich. Grundsätzlich ist es wichtig, etwas über eine andere Kultur zu erzählen und zu erklären, warum wir auf diese Art trainieren. Ich habe schon viel herumexperimentiert: Wie viel soll ich erzählen? Was überfordert, was begeistert die Leute oder weckt ihr Interesse? Ich denke, man muss immer wieder von neuem an den Prinzipien schleifen und Inhalte erklären. Nicht im Monolog, sondern wirklich im Dialog. Da das auf der Matte nicht so ausführlich passieren kann, weil man da wenig redet, findet der Austausch oft vor oder nach dem Training statt, oder wenn man miteinander essen und trinken geht. Man kann auch mal auf die Leute zugehen, sie fragen, ob sie alles verstanden haben, oder ob sie noch etwas wissen wollen. So habe ich das jetzt lange gemacht. In den Trainingssequenzen hast du als Trainer nicht soviel Zeit, etwas zu erzählen und wenn, dann sollte dies nur häppchenweise geschehen.

Gudrun: Aikido-Anfänger bringen oft viel Neugier mit und sind hellwach. Sie lernen durch Wahrnehmen, Beobachten, Nachahmen - auch über die Etikette. So bekommen sie mit der Zeit ein Gefühl dafür. Vieles erklärt sich von selbst. Ich möchte ungern, dass die Etikette zum Hauptthema im Training wird, sonst könnte sie leicht zum Selbstzweck erstarren. Sie ist aber eine Hilfe. Manchmal kann man es nicht vermeiden, weil einiges doch nicht selbstverständlich ist, dann muss man darüber reden. Mir hilft es immer, wenn Fragen kommen. Dann weiß ich, was die Leute interessiert und wo sie gerade stehen.

Daniela, du unterrichtest sowohl Erwachsene, als auch Jugendliche. Jetzt interessiert mich, wie ist das bei dir im Jugendtraining?

Daniela: Ich habe es bei den Kindern leichter. Da habe ich einen Assistenten, im Moment Timothy, er ist der „Etikettenmeister“. Er hat tatsächlich von mir die Aufgabe bekommen, sich um die Etikette zu kümmern. Wenn wir sehen, dass ein bestimmtes Thema für die ganze Gruppe schwierig ist, weist er mich darauf hin, und nur dann nehme ich es in den Unterricht rein. Ich erkläre dann zum Beispiel, warum wir die Füße nicht ausstrecken und zum Lehrer zeigen lassen, denn das gilt in Japan als unhöflich. Die Qualität des Sitzens und Zuhörens ist gerade bei Kindern ein großes Trainingsfeld. Um die Aufmerksamkeit und die Konzentration zu fördern, gehört das Sitzen in einer stabilen und würdevollen Haltung - wie im Seiza - dazu.

Gudrun: Es ging jetzt um Regeln, Verbeugungen oder das stille, aufrechte Sitzen im Fersensitz als Aufmerksamkeitsübung. Ihr habt erläutert, warum die Etikette sinnvoll ist. Sie gehört wesentlich zum Aikido dazu, sie bietet uns eine Struktur. Bezeichnend für unser Training sind aber die komplexen, fließenden Bewegungsabläufe, die so genannten Aikido-Techniken. Aikido ist körperlich herausfordernd und dynamisch. Worin liegt die Freude des Aikido-Trainings aus eurer Sicht? Für Kinder ist die Freude am Tun besonders wichtig, sonst kommen sie irgendwann nicht mehr. Warum macht Aikido Spaß? Was fördert diese Freude?

Yvonne: Was ist Spaß? Darauf gibt es sicher verschiedene Antworten. Widerspricht sich Etikette und Spaß? Ich denke nicht, denn ich habe Spaß an Bewegung, an Auseinandersetzung, am Miteinander. Es gibt Zeiten für Konzentration und Umsetzung und Zeiten für gemeinsames Beisammensein. Ob man in eineinhalb Stunden Training weniger oder mehr Spaß hat, liegt für mich an der Einstellung des Trainierenden. Wir trainieren auch Ernsthaftigkeit, wir konsumieren nicht.

Daniela: Zum Thema Spaß habe ich die Kinder interviewt. Ein Junge sagte: Aikido ist ein Sport, allerdings ein kreativer Sport und macht ihm deswegen Spaß. Ein Mädchen meinte: diese Selbstverteidigung macht ihr Spaß und zusammen zu üben. Ein anderes Mädchen äußerte, dass sie es toll findet, es sich gut anfühlt und es so schön ist, weil es in gewisser Weise unbekannt ist und daher auch eine „geheime Selbstverteidigungskunst“.

Ich glaube, dass die Etikette zum Lernerfolg ebenso viel beiträgt wie der Spaß.

Wer den Zugang zur Etikette findet, erfährt auch den Mehrwert.

Wie wäre es ein Experiment zu machen und einen Teil des Unterrichts komplett ohne Etikette und ohne Regeln zu gestalten? Also alles erlauben: durcheinander quatschen, durcheinander rennen, jeder kann dann trainieren, wann er will, mit wem er will und solange er will. Das könnte man aufzeichnen und das Videomaterial später anschauen. Zum Vergleich könnte man eine Unterrichtssequenz mit Etikette und Regeln aufnehmen. Mit diesem Material könnten die Jugendtrainer gemeinsam darüber reflektieren, was es für sie bedeutet, mit oder ohne Etikette zu trainieren.

Gudrun: Das ist eine prima Idee, die ich an unsere Jugendtrainer weitergeben werde.

Daniela: Nicht zu vergessen: Etikette ist eine eigene Sprache - Kommunikation ohne Worte...

Gudrun: ...eine Sprache, mit der wir uns innerhalb der Tendoryu-Community international verständigen können.